Erst spät bekam ich zu spüren, dass mein Geschlecht mir Nachteile bereitet. Als Jugendliche ging ich auf eine Mädchenschule. Wir Frauen konnten die Besten in den Naturwissenschaften, die Klassenclowns oder Rowdies sein. Und die Jungen, mit denen wir uns anfreundeten, waren Menschen wie wir, die gern mal weinten, mit uns diskutieren wollten, Tocotronic und Hole hörten. Vom Sexismus in der Welt draußen erfuhren meine Freundinnen, meine Freunde und ich zwar trotzdem – wir lasen schließlich Zeitungen, hatten Eltern und liefen durch die Straßen unserer bayerischen Kleinstadt. Aber wir fühlten uns nicht selbst betroffen.
Ähnlich ging es für mich an der Uni weiter: Über Sexismus redeten wir mehr, als dass wir ihn erlebten. Am vollsten waren die Vorlesungen der herrschaftskritischen Gender-Professorin. Vielleicht müssen einfach alle Butler lesen oder Haraway und dann brauchen wir auch keine Quote, dachte ich. In meinem zweiten Studienfach, der Journalistik, brauchte man das sowieso nicht: Dort glich die Situation meiner Mädchenschule. Es gab kaum Männer – der NC war zu hoch. Wieder mal konnten wir Frauen alle Rollen spielen und Chefinnen sein.
Erst im Journalismus traf mich der Sexismus. Als Praktikantin war ich in Redaktionen, deren Geschlechterverhältnisse genau anders herum waren als in meinem Journalistik-Studium und die Chefredakteure hatten von Butler eher noch nichts gehört. Einmal wollte ich ein Thema vorschlagen. Ich war aufgeregt, hatte mich in internationales Recht eingelesen, formulierte dann etwas geschwollen. Es war ruhig, als ich fertig war und in die Runde schaute. In den Blicken der Redakteure schienen sich Spott und Entzückung zu mischen. „Schau, Carolin, das ist vielleicht ein bisschen zu politisch, zu groß für den Anfang“, sagte der Chef. Ok, dachte ich, vielleicht lassen sie Leute im Praktikum nicht ran an die großen Themen. „Willst Du nicht lieber ein Frauenthema machen?“, fragte er.
Und ich habe nichts mehr gesagt.
Über die paar Jahre hinweg, in denen ich hin und wieder freiberuflich als Journalistin arbeitete, habe ich eine Reihe ähnlicher Situationen erlebt. Ich kam mir diskriminiert, ungerecht behandelt und ausgenutzt vor.
Hatten jene Situationen damit zu tun, dass ich eine Frau bin? Eindeutig scheint dieser Fall: Ein Redakteur wollte mit mir, der Praktikantin, essen gehen, um angeblich einen gemeinsamen Beitrag zu besprechen. Kaum im Restaurant angekommen, fragt er mich, ob ich einen Freund habe, um mir im selben Atemzug zu sagen, er könne kooperative Kolleginnen beim Sender nach oben bringen.
Weniger klar war es mir in einer anderen Situation: Ich wollte einmal einen Artikel schreiben zu einem Thema, über das ich schon länger geforscht hatte. Ich besprach mich mit einem Redakteur, schickte ihm Ausschnitte meiner Arbeit. Am Ende erschien ein schöner Text – darunter sein Name. Hätte er es bei einem Typen genauso gemacht? Ich glaube nicht. Er hätte über die Folgen nachgedacht.
Wie gelähmt fühlte ich mich wieder mal in meiner Fassungslosigkeit. Warum habe ich nicht gesprochen oder darüber geschrieben, als ich die Fassung wieder gewonnen hatte? Weil ich Angst hatte. Angst davor rauszufallen, nicht mehr mitspielen zu dürfen. Keine mehr von den wenigen oder wenig variationsreichen Rollen mehr ergattern zu können, die den Frauen in den meisten etablierten Redaktionen bleiben. Und auch aus der Angst davor, nicht ernst genommen zu werden, belächelt zu werden, eine hysterische Zicke zu sein, die es einfach nicht drauf hat und andere dafür verantwortlich macht.
Der alltägliche Sexismus ist längst bewiesen: Die Einkommensunterschiede von Männern und Frauen gleicher Qualifikation machen deutlich, was auch jenseits jener offensichtlichen Diskriminierung immer öfter nachgewiesen wird – so zeigt zum Beispiel die Heitmeyer-Studie aus dem Jahr 2009, dass das Vorurteil, Frauen seien biologisch ‚anders’ und deswegen weniger rational, in europäischen Ländern tief sitzt. Daran kann sich nur etwas ändern, wenn in den etablierten Medien über den alltäglichen Sexismus berichtet wird. Das kann nicht passieren, solange die Mehrheits- und Machtverhältnisse in den Redaktionen selbst sexistisch sind. Männliche Redakteure leiden selten unter jenen Hierarchien und übersehen dadurch den andauernden Skandal, der sich damit auch in ihren Reihen immer wieder fortsetzt.
Weder will ich den Chef mit den „Frauen-Themen“ noch andere männliche Redakteure des Sexismus anklagen oder sie für schuldig erklären. Es geht nicht darum, Frauen als Opfer und Männer als Täter darzustellen. Das Geschlechterverhältnis beschränkt sich nicht auf individuelle Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen durch Männer, sondern wird von allen gestaltet – und alle werden durch die bestehenden Verhältnisse geformt. Genauso wenig wie ein Mensch als Mann und machtorientiert geboren wird, kommt man als Frau zur Welt: Man wird erst zur solchen (gemacht) – das hat Simone de Beauvoir schon 1949 geschrieben. Die gegenwärtige Welt ist zweigeschlechtlich organisiert, alle Menschen müssen sich mit einem Geschlecht identifizieren und das hat Auswirkungen auf den Alltag, auf Arbeit und Beziehungen. Das binäre Geschlechterverhältnis ist hierarchisch.
Neben der Angst, die ich oben erwähnte, gibt es damit noch einen anderen Grund dafür, dass ich geschwiegen habe: Die Überzeugung, dass es nicht gut für die Menschen ist, sie in zwei Kategorien wie Mann und Frau zu packen. Ich wollte diese Kategorien nicht selbst stärken und war unsicher, wie ich reden soll, ohne von „den Männern“ im Journalismus zu sprechen und ohne meine individuellen Erfahrungen als repräsentativ für Diskriminierung von Frauen zu überhöhen – ohne mich also selbst zur Frau und zum Opfer zu machen.
Zu beidem wurde ich aber. Nicht, weil ich mich selbst dazu gemacht habe. Sondern weil es Strukturen gibt, die das gesellschaftliche Geschlechterverhältnis verfestigt hat.
Ich finde den Brief so gut und so dringend nötig, weil er die Angst nimmt. Und wenn die Angst schwindet, dann hat die Wut Raum. Und die stellt auch meine Sorge, die Kategorien zu stärken, in den Schatten. Denn dann denke ich: Wenn Frauen als Frauen diskriminiert und als minderwertig behandelt werden, hat es auch Sinn, „als Frauen“ dagegen anzugehen! Wogegen? Gegen die Struktur – und genau das kann mit einer Quote beginnen. Frauen und Männer müssen die Plätze in den Redaktionen neu verteilen. 50-50.
Erst die Quote, dann können die Leute in den Redaktionen vielleicht Butler lesen oder einfach miteinander denken und reden. Nur so kann es dort und damit auch in der Welt draußen irgendwann keine Rolle mehr spielen, ob Mann oder Frau oder was auch immer.
Carolin Wiedemann ist freie Journalistin, Doktorandin an der Uni Hamburg und Mitarbeiterin des „Missy Magazin“