ProQuote-Besuch bei den Chefredaktionen deutscher Leitmedien: Echte Selbstverpflichtung zu mehr Vielfalt bleibt meist aus

Hamburg, 30.12.2022 – Bemühen ja, verpflichten nein – so lässt sich die Haltung der deutschen Leitmedien in Sachen Vielfalt zusammenfassen. Mehr Frauen in Führungspositionen und mehr Diversität in Redaktionen und Redaktionsleitungen ist zwar ein Thema, mit dem sich viele der großen deutschen Medien befassen. Eine echte, nachvollziehbare Selbstverpflichtung lehnen allerdings fast alle Chefredaktionen ab. „Im Jahr 2023 erwarten wir mehr. Worte sind schön und gut, aber es sind die Taten, die zählen“, sagt Edith Heitkämper, Vorstandsvorsitzende von ProQuote Medien. Zwischen den einzelnen Chefredaktionen gebe es große Unterschiede. „Einige bemühen sich, aber bei anderen haben wir eine erschreckende Ignoranz erlebt.“

ProQuote Medien hat im Jahr des zehnten Vereinsjubiläums Chefredakteurinnen und Chefredakteure von FAZ, Spiegel, Stern, SZ, taz und Zeit in ihren Büros besucht und nachgefragt: Wie viel ist dran an den Versprechungen, mehr Frauen und Frauen mit diversen Hintergründen in wichtige Positionen zu befördern? Was hat sich verbessert seit der Gründung von ProQuote vor zehn Jahren? Woran hakt es noch? Und wann werden es deutsche Medien schaffen, die ProQuote-Forderung nach 50 Prozent Frauenmachtanteil zu erfüllen?  Bild, Welt und Focus wollten ProQuote nicht treffen oder konnten  keine Termine in diesem Jahr ermöglichen – angeblich waren sie zu beschäftigt. „Es ist sicherlich kein Zufall, dass genau die Chefredakteure nicht zu Gesprächen bereit waren, die sich in Sachen Vielfalt nicht hervortun“, kommentiert Heitkämper. „Das ist schade, denn wir würden ihnen gerne helfen.“

ProQuote hat den kooperativeren Medien einen Vertrag geschickt, mit dem sich die Chefredaktionen selbst verpflichten sollen, mehr Frauen zu fördern und auf Diversität zu achten. Forderung Nummer 1: „50 Prozent Frauen mit diversen Hintergründen in allen Führungsebenen. Dies betrifft beispielsweise Herkunft und Ethnizität, sexuelle Orientierung, Armutserfahrung, Behinderung, Alter, Bildungsgrad, Glaube. Die Mitarbeiter*innen der Medien sollen die Vielfalt der Gesellschaft abbilden.“

Unterschrieben hat den Vertrag nur die Vertreterin eines einzigen Mediums: die stellvertretende Chefredakteurin Katrin Gottschalk von Vielfalt-Vorbild taz. „Dass Frauen bei uns so mächtig sind, ist Ergebnis eines Dreiklangs“, sagte sie. Die taz habe seit seit 1980 eine Quoten-Tradition, schon seit den 90er Jahren Frauen in Machtpositionen, auch in der Chefredaktion, und unterstütze Frauen, etwa Coaching wenn sie neu in Führung kommen. Zuletzt lag der Frauenmachtanteil, also die nach Führungsebene gewichtete Quote, bei 64,2 Prozent.

Ganz anders sieht es aus bei der FAZ. Die Tageszeitung landete bei der letzten Leitmedienzählung auf Platz 9 von 9 Plätzen. Der gewichtete Frauenmachtanteil lag nur bei 23,9 Prozent und hat sich fast gar nicht verändert zu der vorigen Zählung. Jürgen Kaube, einer der vier Männer im vierköpfigen Herausgebergremium, das bei der FAZ eine klassische Chefredaktion ersetzt, war immerhin bereit zum Gespräch mit dem ProQuote-Vorstand, zeigte aber kaum Problembewusstsein. Ein Problem wäre nur ein „drastisches Ungleichgewicht“ bei der Geschlechterverteilung, sagt er, und sieht das offenbar bei einem Männermachtanteil von fast 76 Prozent nicht. Vielfalt zeige sich ohnehin nicht nur an Kriterien wie Geschlecht, sondern auch an vielfältigem Denken. Er habe nichts gegen Frauen in Führungspositionen, aber gezielt fördern müsse man die nicht. „Die Fähigkeit, die Gesellschaft abzubilden, hängt davon ab, dass man gute Journalisten hat, nicht woher sie kommen oder welches Geschlecht sie haben“, sagte Kaube. „Die Leser machen sich keine Gedanken über unser Organigramm.“ Es würde sich bei Beförderungen stets der oder die Beste durchsetzen. Die FAZ sei in der Vergangenheit männerdominiert gewesen – durch die vergleichsweise kleine Redaktion und wenig Fluktuation in der Belegschaft dauere der Wandel eben länger.

Über den Besuch beim Stern berichtet der ProQuote-Vorstand: „Es wurde deutlich, wie sich der Stern um mehr Frauen in Führung bemüht: Dass in den Redaktionskonferenzen zum Beispiel immer wieder über das Frauenbild diskutiert wird, das man transportiert. Oder dass es um Expertinnen geht, die zu Wort kommen. Auch die Stern-Bildsprache sei Thema – sowohl die im Magazin, als auch die auf den Titeln.“ Früher konnte man etwa darauf wetten, auf dem Cover eines Rückenschmerzen-Spezials eine nackte Frau zu sehen. Die Zeiten seien vorbei, so Chefredakteur Gregor Peter Schmitz und Stellvertreterin Laura-Lena Förster.Ihnen sei wichtig, keine Stereotype zu zementieren, sondern ein modernes Frauen- und Familienbild abzubilden. Nichtsdestotrotz sackte der Stern in unseren Leitmedienzählungen zuletzt ab. Zurzeit liegt er nur noch bei 42,4 Prozent. Noch im Januar 2021 hatte es der Stern auf 51,1 Prozent gebracht. Den Vertrag unterschreiben wollten Schmitz und Förster nicht.

Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo betonte während des ProQuote-Tour-Stopps die Fortschritte. Jungen Redaktions-Kolleginnen, die vorher übersehen wurden, würden mittlerweile Aufstiegsmöglichkeiten gegeben und alte Hierarchien dadurch aufgemischt. Die Zeit wolle in Zukunft mehr Frauen auf der ersten Seite sichtbar machen und grundsätzlich mehr Leitartikel von Journalistinnen bringen.Den PQ-Vertrag unterschreiben wollte di Lorenzo nicht – erfüllt ihn aber bereits in einigen Punkten.

In München war ProQuote mit Judith Wittwer verabredet, der einen Hälfte derChefredaktions-Doppelspitze der SZ. Unser Eindruck: Diese Chefredaktion will Dinge anders machen, als sie bisher oft gemacht wurden. In Sachen Diversitätsförderung braucht es in München noch Ideen, man sei sehr aufgeschlossen für neue Wege. In unserer halbjährlichen Leitmedien-Rangliste lag die SZ zuletzt bei 39 Prozent – Platz 5 und damit nur im Mittelfeld der neun gezählten Medien. Doch vor zehn Jahren, als ProQuote Medien gegründet wurde, hatte die SZ gerade mal vier Prozent Frauen in Führung. Was den ProQuote-Vertrag angeht: Wittwer ließ ausrichten, die SZ habe sich eigene Ziele gesetzt. Deshalb werde man den Vertrag nicht unterschreiben.

Beim Spiegel traf der PQ-Vorstand unter anderem Thorsten Dörting, Mitglied der Chefredaktion. Seit einiger Zeit zähle der Spiegel genau nach, wie viele Frauen in den jeweiligen Ausgabenzu Wort kämen. Obwohl sich die Redaktion vorgenommen hat, häufiger Expertinnen zu zitieren und mehr Interviews mit Frauen zu führen, sei der Männerüberschuss kaum geschrumpft, so der Spiegel selbst. Der Verlag testet weiter, auch wo die Leser*innen mitgehen: Obwohl es großen Aufschrei gab, als das Magazin zu gendern begann, seien weder Verkäufe noch Abos abgesackt. Das Nachrichtenmagazin kommt inzwischen auf einen Frauenmachtanteil von 42 Prozent. Nicht schlecht, aber auch nicht 50. Den ProQuote-Vertrag wollte die Spiegel-Chefredaktion nicht unterschreiben. Man wolle sich nicht an Institutionen von außen binden.

„In den zehn Jahren seit der Gründung von ProQuote hat sich sehr viel verändert“, sagt Vorstandschefin Heitkämper. In allen Leitmedien gibt es inzwischen mehr Frauen in Führungspositionen. In vielen Chefredaktionen gebe es zudem ernsthafte Pläne, mehr Vielfalt zu schaffen auch jenseits der reinen Frauenquote. „Aber es ist noch Luft nach oben. Wir geben nicht auf, zählen weiter und haken nach. Wenn eine Redaktion Fragen hat, soll sie sich bei uns melden. Wir helfen gern.“ Ein höherer Frauenmachtanteil sei kein Selbstzweck, sondern gut für alle. „Mehr Frauen in Führung geben einen Impuls, um längerfristig auch die Arbeitsstrukturen hin zu einer besseren Work-Life-Balance zu verändern. Das ist dringend notwendig.“

Hier eine Kurzfassung der Forderungen aus dem ProQuote-Vertrag, die nur eine Chefredaktion unterschreiben wollte:

  1. 50 Prozent Frauen mit diversen Hintergründen in allen Führungsebenen.
  2. 50 Prozent Kolumnistinnen, Leitartiklerinnen und Kommentatorinnen in den meinungsbildenden journalistischen Formaten.
  3. Diversität bei der Auswahl der Protagonist*innen und Expert*innen.
  4. Bei gleicher Qualifikation: Bevorzugung der Kandidatin. Außerdem gezielte Nachwuchsförderung, die auf Vielfalt wert legt.
  5. Führung in Teilzeit ermöglichen.
  6. Gleiches Geld für gleiche Arbeit.

Seit 2012 zählt und vergleicht der gemeinnützige Verein ProQuote Medien die Frauenanteile in journalistischen Führungspositionen. Die Zählungen erfolgen auf Grundlage der Print- und Online-Impressen, wobei nach Hierarchie-Ebenen gewichtet wird: Je höher die Position, desto größer die Machtfülle. Der Verein wird von Frauen und Männern unterstützt, die hinter der Forderung von ProQuote Medien stehen:  Die Hälfte der journalistischen Spitzenpositionen soll weiblich besetzt werden. Für nähere Informationen erreichen Sie uns unter presse@pro-quote.de.

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